04.11.2021
Die Paralympics sind gerade vorbei, da starten vom 5. bis 12. November im türkischen Samsun die Goalball-Europameisterschaften der Damen und Herren mit insgesamt vier Rostocker Spieler:innen. Die Vorbereitung war entsprechend kurz und sicher nicht optimal, zudem sind einige neue Gesichter dabei – auf dem Feld und auch an der Seitenlinie. Und für die Herren ist es das erste internationale Turnier seit dem bitteren wie unerwarteten Vorrunden-Aus bei den Paralympics in Tokio, für die Damen ist es gar der erste große Wettbewerb seit über zwei Jahren.
Herren: Der Stachel der Enttäuschung saß tief bei Deutschlands
Goalball Herrren. Statt in Tokio über die erhoffte Medaille zu jubeln, musste
das Team das vorzeitige Ausscheiden hinnehmen. Möglich machte das eine völlig
verrückte Gruppenkonstellation. Am Ende hatten alle fünf Mannschaften sechs
Punkte auf der Habenseite – und Deutschland das schlechteste Torverhältnis.
Viel bitterer kann man kaum ausscheiden. Die weiteren Gründe: eine harmlose
Offensive, teils ungewohnte Fehler und Nachlässigkeiten, zwei angeschlagene
Leistungsträger und wohl auch der eigene Erwartungsdruck. „Das Ausscheiden war
sehr unglücklich, ohne dass wir es nachträglich schönreden wollen. Klar ist:
Wir haben unsere selbst gesteckten Ziele nicht erreicht“, betont der neue
Bundestrainer und langjährige Co-Trainer Stefan Weil, der nach dem geplanten
Rücktritt von Johannes Günther dessen Nachfolge angetreten ist. Davor ging es in den vergangenen Jahren stetig bergauf für
die deutschen Goalballern; mit dem Highlight des Titelgewinnes bei der Heim-EM
2019 hier in Rostock. Dass nun wenige Wochen nach den Paralympics und eher
überraschend in diesem Jahr noch eine Europameisterschaft auf dem Programm
steht, die Auswirkungen auf die Weltmeisterschaft und damit auch auf die
Paralympics-Qualifikation hat, stört da eher die Aufarbeitung der
Tokio-Enttäuschung. „Seit meinem Amtsantritt am 1. Oktober sitze ich jeden Tag
am Schreibtisch, um die EM erst organisatorisch und dann sportlich
vorzubereiten“, berichtet Weil. Größte Baustelle: Die Zusammenstellung des Kaders.
„Meine erste Frage war zunächst: Wer hat überhaupt noch Urlaubstage übrig?“.
Und die Nationalmannschaft bereitete sich akribisch und in vielen Lehrgängen
auf die Paralympics vor, eine Europameisterschaft war da nicht präsent – weder
im Kalender noch in den Köpfen. So muss Weil auf zwei von sechs Spielern aus
dem Tokio-Kader verzichten: Thomas Steiger fällt beruflich aus, auch Felix
Rogge steht nicht zur Verfügung. Bei den Europameisterschaften in Samsun ist der Einzug ins
Halbfinale das Ziel der deutschen Herren-Auswahl. Das würde gleichzeitig die
sichere Qualifikation für die WM 2022 bedeuten und ist somit die erste
Weichenstellung auf dem Weg nach Paris. Denn bei der WM gibt es die erste
Möglichkeit, sich Tickets für die Paralympics 2024 zu sichern. Deutschland hat
eine vermeintlich machbare Gruppe, trifft auf die Aufsteiger Montenegro und
Griechenland sowie mit Finnland und Gastgeber Türkei auf zwei Teams auf
Augenhöhe.
Damen: Deutschlands Goalballerinnen reisen als Wundertüte zur EM.
Nach Überraschungs-Bronze bei der Heim-EM in Rostock beendeten zwei
Spielerinnen ihre Nationalmannschaftskarriere und mit Jessica Bahr steht auch
hier eine neue Cheftrainerin an der Seitenlinie. Und die erlebte einen denkbar
schwierigen Start, als sie das Team kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie im
Frühjahr 2020 übernahm. „Wir durften sehr lange Zeit nicht trainieren und keine
Lehrgänge absolvieren, zudem fehlen die Wettkämpfe und der internationale
Vergleich. Wir wissen nicht, wo wir stehen“, sagt Bahr. Erst vor wenigen Wochen
erlebte die Nationalmannschaft ihr erstes internationales Turnier seit der EM
im Oktober 2019. „Wir haben eine neue Mannschaft und eine neue Trainerin. Zwar
haben wir in den vergangenen Wochen im Rahmen unserer Möglichkeiten gut
gearbeitet, doch wir sehen uns klar in der Underdog-Rolle, geben unser Bestes
und lassen uns selbst überraschen, was möglich ist“, erklärt Bahr. Fest steht: In der Gruppenphase trifft Deutschland auf
Frankreich, Griechenland, Ukraine und den Paralympics-Fünften aus Israel.
Erstes Ziel ist der Einzug ins Viertelfinale. „Für uns geht es um den
Klassenerhalt“, sagt die deutsche Cheftrainerin. Mit Charlotte Kaercher,
Partnerin von Herren-Nationalspieler Reno Tiede, hat sie eine Rückkehrerin in
den eigenen Reihen, dazu auch drei junge Debütantinnen; u.a. die Rostockerin
Lisa Triebel.
Die Spiele werden ab dem 5. November auf dem YouTube-Kanal
der International Blind Sports Federation (IBSA) übertragen ( https://www.youtube.com/channel/UCBkrq1w8QCSmc7Qkm3bmvvw
).
Informationen gibt es auf der Turnier-Website ( https://www.ibsagoalball.org/ ).
Die deutschen EM-Aufgebote:
Damen: Annkathrin Denker (29, Lübeck, SSG
Blista Marburg), Charlotte Kaercher (30, Heidelberg, RGC Hansa Rostock), Pia
Knaute (25, Magdeburg, RGC Hansa Rostock), Jennifer Koch (18, Gunzenhausen,
BVSV Nürnberg), Rauan Mardnli (20, Frankfurt, SpVgg Ilvesheim), Lisa Triebel
(21, Pritzwalk, RGC Hansa Rostock).
Herren: Michael Dennis (29, Düren, SSG Blista Marburg), Fabian Diehm (24, Ansbach, BVSV Nürnberg), Oliver Hörauf (24, Bautzen, Chemnitzer BC), Philipp Tauscher (21, Leipzig, L. E. Sport), Reno Tiede (31, Rostock, RGC Hansa Rostock
Text von Lars Pickardt